Seelenmagen Zur Geschichte der funktionellen Magen-Darmstörungen
Article type: Research Article
Authors: Jütte, Robert
Affiliations: Prof. Dr. phil. Robert Jütte, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straußweg 17, 70184 Stuttgart, e-mail: robert. juette@igm-bosch.de
Abstract: Schon der griechische Schriftsteller Diodoros (1. Jh. v. Chr.) weiß über die alten Ägypter zu berichten, daß sie Klistiere und Brechmittel anwandten, um zu vermeiden, daß unverdaute Nahrung Krankheiten auslöste. Ähnliche Krankheitsvorstellungen und medizinische Praktiken treffen wir auch in der griechisch-römischen Antike an. Sie halten sich teilweise bis weit in das 19. Jahrhundert hinein und werden erst im Zeitalter der naturwissenschaftlichen Medizin als irrig oder unsinnig abgestempelt. Insofern kann man mit Fug und Recht die Medizin vor dieser Zeit im wesentlichen als Verdauungsmedizin bezeichnen. Denn sie legte größten Wert auf die Diätetik, und zwar im ursprünglichen und umfassenderen Sinne des Wortes. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts taucht der uns heute so geläufige Begriff des Stoffwechsels auf. Der Magen erscheint fortan nur noch als ein Rädchen im großen Getriebe des menschlichen Organismus und verliert die zentrale Stellung, die man ihm bis dahin zugesprochen hatte. Dahinter steckte nicht zuletzt die wissenschaftliche Erkenntnis, die sich spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollends Bahn brach, daß sich Krankheiten nicht allein oder überwiegend durch die Diätetik beeinflussen lassen. Die einst vorherrschende Verdauungsmedizin wurde somit zu einer Domäne der Naturheilkunde bzw. der sogenannten Volksmedizin. Und sie ist es bis heute größtenteils geblieben. The Greek author Diodoros (1 st century B.C.) reports that in Ancient Egypt people used enemas and vomitives in order to prevent that undigested food became a cause for illness. Similar etiologies and medical practices existed in ancient Greece and Rome. These concepts persist till the 19th century. Only in the age of scientific medicine such views were labelled false or absurd. Therefore medicine before the 19 th century can rightly be called digestive medicine, putting emphasis on dietetics in the true sense of the word. The term metabolism does not appear before the end of the 18 th century. Since this time the stomach is seen no longer as the centre but as a cog in the machine. This is due to the fact that medical science in the 19 th century corroborates the new idea that illness cannot or can only to a certain extent be controlled by applying dietetics. Thus the once dominating digestive medicine became part of fringe medicine (nature healing and popular medicine). And has been kept in this position until the very day.
Keywords: Diätetik, Krankheitsmodelle, funktionelle Störungen, Geschichte der Medizin
Keywords: dietetics, health beliefs, functional disorders, history of medicine
Journal: Zeitschrift für Medizinische Psychologie, vol. 9, no. 1, pp. 43-48, 2000